Schütze die Flamme –
Kreise radikaler Anwesenheit in Zeiten des Zusammenbruchs
Von Otto C. Scharmer, 7. September 2022
Übersetzung von Isabell Herzog

Ich sitze in einem Zug der Räthischen Bahn auf der Rückfahrt von Pontresina, hoch in den schönen Schweizer Alpen. Umgeben von schmelzenden Gletschern reflektiere ich die zwei Treffen, die hier Anfang der Woche stattgefunden haben: das WorldEthicForum (WEFo) mit etwa 250 Teilnehmern und das Jahrestreffen des World Future Council (WFC), einer Zusammenkunft von 50 globalen Entscheidungsträger:innen aus Zivilgesellschaft, Regierung, Wissenschaft und Wirtschaft. Beide Zusammenkünfte wurden mit der Absicht einberufen, unseren Weg in eine regenerative, friedliche und gerechte Zukunft neu zu denken.
Während ich über diese und andere ähnliche Zusammenkünfte der letzten Monate nachdenke, fallen mir drei Themen auf. Dieselben Themen finden sich auch im bevorstehenden UN-Bericht über die menschliche Entwicklung 2021–2022 (der im Laufe dieser Woche veröffentlicht werden soll) und in der bevorstehenden Studie des Club of Rome 50 Jahre nach seinem bahnbrechenden Buch «Grenzen des Wachstums» wieder. Die neue Studie trägt den Titel Erde für alle: Ein Überlebensleitfaden für die Menschheit (Earth for All: A Survival Guide for Humanity; soll im Laufe dieses Monats veröffentlicht werden). Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit, die von der Transformational Economics Commission geleitet wird, einer vom Club of Rome einberufenen Gruppe Pionier:innen von Wirtschaftexpert:innen, Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen.
Zivilisatorischer Zusammenbruch?
Das erste Thema ist, dass wir in einer Zeit des beschleunigten Zusammenbruchs und Kollapses leben. Wir sehen die Symptome dafür in der Verschlechterung unseres Ökosystems, die im Falle von Überschwemmungen und Dürren oft als «die schlimmste seit 1.000 Jahren» beschrieben wird. Wir sehen es an der Destabilisierung des Klimas, dem Absinken des Grundwasserspiegels, dem Verlust des Mutterbodens und dem alarmierenden Verlust der biologischen Vielfalt. Wir sehen die Symptome des Zusammenbruchs der sozialen Systeme in einem erhöhten Mass an Polarisierung, Ungleichheit, Rassismus, Gewalt und Krieg sowie in den Anfängen der klimabedingten Massenmigration.
Die zweite Thematik ist das mulmige Gefühl, das sich einstellt, wenn man all das wahrnimmt. Es ist ein Gefühl, das sagt: Es scheint nichts zu geben, was ich oder wir daran jetzt tun können – vielleicht ist es schon zu spät. Mit anderen Worten, es herrscht eine allgegenwärtige kollektive Depression, die die Sichtweise aller prägt, insbesondere die unserer Jugend, die die Last unseres gesellschaftlichen Versagens in die Zukunft tragen wird.
Das dritte Thema hat mit dem Paradox zu tun, dass wir fast alles wissen, was notwendig ist, um den Zusammenbruch der Zivilisation zu verhindern – wir haben das meiste Wissen, die meisten Technologien und alle finanziellen Mittel, die notwendig sind, um die Dinge zu ändern — und dennoch tun wir es nicht. Kurz gesagt: Beim dritten Thema geht es um die massive Kluft zwischen Wissen und Handeln, die sich in unserem kollektiven Verhalten in den letzten 50+ Jahren niedergeschlagen hat.